Es gibt Menschen, die so sehr an den vorherrschenden Zeitgeist mit dessen Paradigmen adaptiert sind, dass sie diesen auch dann noch mit allen Mitteln verteidigen, wenn sie langsam krank werden, körperlich abbauen und/oder seelisch verstimmen.
Die Absurdität des Normalen
Es sagte der indische Theosoph Jiddu Krishnamurti (1895 – 1986): „Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, an eine zutiefst kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein.“
Doch was ist normal?
Es ist (grundsätzlich) normal, drei bis vier Stunden täglich fern zu sehen oder in Social-Media aktiv zu sein, es ist normal, Fleisch-, Tiefkühl-, Convenience- oder Junkfood-Produkte zu essen, es ist normal, dass Bio-Produkte teurer sind, als konventionell hergestellte Produkte, es ist normal, Popstars und Schauspieler zu idealisieren, es ist normal, täglich acht Stunden zu arbeiten, damit man ab sechzig in Pension gehen kann, es ist normal, sich (dabei) unwohl zu fühlen und morgens mit Unlust in den Tag zu starten, es ist normal, Dinge zu kaufen, die man möglicherweise nicht braucht, nur um andere zu beeindrucken, die man eventuell nicht mag, es ist normal, fünf Wochen Urlaub zu haben und sich in dieser Zeit am All-Inclusive-Buffet zu stressen, es ist normal, ab dem dreißigsten Lebensjahr (langsam) abzubauen, es ist normal, bei Krankheit zum Arzt zu gehen und sich ein Rezept zu holen, es ist normal, bei psychischen Beschwerden den Therapeuten aufzusuchen, es ist normal, an Diabetes oder Bluthochdruck zu erkranken und es ist normal, letztlich an Herzinfarkt oder Krebs zu sterben.
All das ist „normal“, weil die Gesellschaft so strukturiert und in dieser Weise bekannt ist. Als normal kann demnach alles bezeichnet werden, was vertraut und bekannt ist und periodisch wiederkehrt. Doch dieser Umstand alleine schafft nicht dasjenige Richtige oder Gute, was dem Menschen auf natürliche Art und Weise gerecht wäre, was seiner mentalen und physischen Gesundheit zuträglich ist, was ihn erhält, stabilisiert und nährt.
Wer z. B. Zeit seines Lebens nur eine einzige Wetterlage kennt, nämlich kühles, nasses Regenwetter, wird dieses für normal halten, auch wenn er sich darin eine Lungenentzündung nach der anderen holt. Wenn dazu noch zehn, hundert oder eine Million Menschen kommen, die ebenso wie er nur diese einzige Wetterlage kennen, wird eine Fatalität generiert, die jede Lungenentzündung für derart „normal“ hält, wie heute Krebs und Herzinfarkt als normal betrachtet werden. Denn: Alle haben das gleiche.
Abweichen von der Norm
Wer aus dieser Vertrautheit – der Norm – ausbricht, zieht sich nicht selten Unmut zu, zumindest wird er verdächtig: Der Einsiedler, der schon jahrzehntelang alleine in der Natur lebt, kann doch nicht „normal“ sein. Der Rohköstler, der keine Junk-Food- oder Convenience-Produkte konsumiert, ist doch genauso seltsam wie der Veganer.
Wer nicht drei bis vier Stunden täglich fernsieht oder sich über Social Media mitteilt, ist doch eigentlich nicht wirklich „da“, und wenn er lieber liest, als sich via TV bespaßen zu lassen, ist er vielleicht belesen, aber mit Sicherheit ein absonderlicher Bücherwurm. Wer nicht täglich acht Stunden verbissen arbeitet, leistet nicht wirklich etwas, und wer ab dem dreißigsten Lebensjahr nicht langsam abbaut, hat auch nie etwas geleistet, denn andernfalls würde er ja abbauen … Wer weder an Diabetes oder Bluthochdruck erkrankt und bis ins hohe Lebensalter geistig klar und fit ist, hat entweder Glück oder gute Gene, gewiss ist seine Gesundheit nicht auf eine gesunde Ernährung, Meditation, Yoga und/oder Sport zurückzuführen. Wer anstatt zum Schulmediziner zum Heilpraktiker geht, spielt mit seiner Gesundheit. Wer – um Gottes Willen! – Psychedelika bevorzugt, anstatt (konventionelle) Psychotherapie auf Krankenschein zu nehmen, ist kriminell. Und wer dem Materialismus, dem Kaufen-, Haben- und Besitzenwollen, mit konsequent gelebtem Minimalismus begegnet, ist genauso verdächtig wie der Fleischesser, der zum Veganer geworden ist usw. …
Menschen werden jedoch i. d. R. nicht aus räsonablen Gründen heraus als „komisch“ betrachtet, sondern i. d. R. aus einfachen Gründen:
„Der liest mehr als ich. Ist doch nur ein Bücherwurm!“ – Angst vor der Belesenheit und der Bildung des anderen.
„Haha! Ein Rohköstler! Bestimmt geht er mal ein wie eine Pflanze!“ – Ignoranz und Unwissenheit, gepaart mit Angst vor dem Anderssein, das das eigene Grundgefühl bedroht.
„Was? Er meditiert jeden Tag eine Stunde und macht eine Stunde Yoga? Na, wenn er sonst nichts (Besseres) zu tun hat?“ – Indirekter Hinweis auf die eigene Arbeitsleistung, die ev. mit Überstunden einhergeht.
„Minimalismus? Lach mich schief. Da kauf ich mir jetzt erst recht eine Luxuslimosine.“ – Protz- und Prestigesucht dominieren den Charakter. (Der Mensch weiß noch nicht, was oder wer er ohne Materialismus wäre.)
Um als verrückt, verdächtig, albern oder abnorm zu gelten, reicht es gewissermaßen, wie auch immer nicht mehr am Kollektivnormalen zu partizipieren. Es reicht ein minimaler Hauch von Skepsis, Misstrauen oder ein schrittweiser Prozess der Bewusstwerdung, um irgend als unnormal zu gelten. Wenn dies geschieht, ist i. d. R. das Grundgefühl „normaler“ Menschen bedroht, ihre Werte, Paradigmen, ihre Anschauungen, ihr Ego. Wieder andere sind so sehr an die Normalität angepasst und darin eingebettet, dass jedwede Abweichung davon die „fragile“ Stabilität bedroht, sonach entschieden bekämpft werden muss.
Doch wie oben erwähnt: Nicht „normal“ zu sein ist nicht gleich bedeutend mit nicht richtig oder nicht gut zu sein. Im Gegenteil: M. E. sind vielmehr jene Menschen richtig und gut, die den Konsens als Irrung, wenn nicht gar als Zumutung empfinden.
Was ist die „richtige“ Welt?
Gesund und richtig wäre m. E. eine Welt, in welcher Bio-Produkte nicht teurer wären, als konventionell erzeugte Produkte, in welcher Menschen nicht gezwungen wären, bis zur Pension einem unliebsamen Job nachzugehen, nicht ab dem dreißigsten Lebensjahr abzubauen usw. … Die Absurdität des Normalen zeigt gewissermaßen deren Pathologie.
Wie man in einer kranken Welt gesund wird
Das, was wir „Moderne Gesellschaft“ nennen, ist im Grunde (als System) alt und in sich (schon lange) instabil. Es spricht der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz von der „Normopathie“ – einer Fehlanpassung an das (normale) System. Es fehlt Nachhaltigkeit, Authentizität, die echte Begegnung mit (echten) Menschen, Natürlichkeit und Sinn. Es fehlt Warmherzigkeit, sowie es kaum mehr tragende (Paar-)Beziehungen und Familien gibt … Die Gesellschaft vereinsamt. Menschen, die den Mut haben, dies alles zu sehen und/oder zu benennen und neue Wege zu gehen, tauschen im Grunde die „veraltete“ Software gegen ein Upgrade aus: Sie werden unique und mehr sie selbst.
Aufzuwachen kann herausfordernd und schmerzhaft sein. Doch wem es gelingt, der installiert sozusagen eine Firewall in sich gegen das Kollektiv-Normale, gegen alles, was zersetzend auf Körper, Geist und Seele wirkt.
Um in einer kranken/gestörten Welt gesund zu werden (und zu bleiben), ist es wichtig, die Konditionierung zu erkennen, das gesellschaftliche Programm zu erkennen und sich aus vorgegeben Strukturen „des Üblichen“ zu emanzipieren: Aus dem „Üblichen der Schule“, dem „Üblichen des Arbeitsleben“, dem „Üblichen des Konsums“, dem „Üblichen des Freizeitverhaltens“, dem „Üblichen der Ernährung“, dem „Üblichen des sozialen Austausches“, dem „Üblichen der Religion“, dem „Üblichen des Lebens“ usw. Dies geschieht i. d. R. nicht per Entscheid über Nacht, sondern es ist ein Prozess, der Monate und/oder Jahre dauern kann. Das Unkonventionelle, Andersartige, Natürliche und Marginale führt letztlich zum Menschengerechten (zurück) und dadurch zu Glück, Gesundheit, Zufriedenheit und Wohlsein.
Das, was aktuell „normal“ ist, ist es m. E. mitnichten. Das, was aktuell als „normal“ betrachtet wird, wirkt (seelisch und körperlich) zersetzend und zerstört die Gesundheit und den Lebensmut von Menschen. Normal im Sinne von „richtig“ ist m. E. alles andere als das, was aktuell „normal“ ist.
Buchverweis im Text: Hans-Joachim Maaz: Das falsche Leben: Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft – Buchlink
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