
Ich war in der Schule in den geisteswissenschaftlichen Fächern sehr gut, in den Nebenfächern mediokre, in Mathematik sehr schlecht. Vor allem in der Oberstufe hatte ich in Mathematik so meine Schwierigkeiten. Um die Wahrheit zu sagen: Mathematik war eine Vergewaltigung für mein Gehirn, bzw. war mein Gehirn für Mathematik einfach nicht gebaut.
Trotzdem, mit Fleiß und Übung, schaffte ich alle Mathematikprüfungen bis hin zur Matura mit der Abschlussnote Befriedigend, was für mich (damals) ein großer Triumph gewesen war. Selbstverständlich brauchte ich im „wahren“ Leben niemals Gleichungen zu lösen, keine Trigonometrie und keine Differentialrechnung.
Schwächen ausgleichen oder Stärken fördern?
Doch wenn ich an die Zeit von der Volksschule bis zum Studium denke, dann ist unendlich viel Energie in der gesamten Schulzeit dafür ver(sch)wendet worden, Schwächen auszugleichen, anstatt Stärken zu fördern. Wenn ich z. B. die gesamte Energie, die ich damals für Mathematik aufgewendet habe, in geisteswissenschaftliche Fächer fließen lassen hätte können, wäre ich heute wahrscheinlich woanders.
Vielleicht geht es wohl vielen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Schul- und Bildungssystem wie mir: Anstatt dass das vorhandene Potential gesehen und gefördert wird, erlebt man sich irgend als Verlierer in gewissen Fächern und muss mit unglaublichem Aufwand etwas wettmachen, nur um einen Abschluss und/oder eine Studienberechtigung zu schaffen … Es gibt dadurch nur bedingt einen persönlichen Gewinn, denn mein Gehirn ist bis heute nicht für Mathematik gebaut, auch wenn ich mich mit noch so vielen Rechnenstilen geplagt und mich darin geübt habe. Das bloße Üben und Schaffen eines Abschlusses etabliert nun mal keine „Anlage“, die es – anders als in der Geisteswissenschaft – in Mathematik für mich nun nie gab.
Im Nachinhein betrachtet: Eine sinnlose Quälerei. Mehr als das kleine Einmal-Eins, Prozentrechnen und Geld im Kopf rausgeben brauche ich in meinem alltäglichen Leben wirklich nicht zu können. (Wobei: Geld im Kopf rausgeben habe ich in meiner gesamten Schullaufbahn nicht gelernt, diese spezielle Aufrechnungsweise durfte ich dann von einer Kollegin in meinem ersten Lehrberuf lernen …)
Lernt man wirklich fürs Leben?
Dass Schule auf das Leben vorbereitet, stimmt für mich nur bedingt. Natürlich halte ich es für wichtig, Lesen, Schreiben und Rechnen zu können. Ein gewisses „Must Have“ an Bildung zu haben, wie als Grundstock, um im Leben zurecht zu kommen: Um Straßenschilder lesen zu können, die Uhrzeit zu kennen, um Bücher lesen zu können, sich mitteilen zu können usw. … Aber wenn dieser Grundstock gegeben ist, sollte m. E. innerhalb des Bildungswesens der Fokus auf die Talente und Potentiale des Schülers/Menschen gelegt werden, anstatt ihm Selbstbewusstsein und Lebenszeit zu klauen, weil er sich erstens als permanent schwach erlebt und er zweitens daher genötigt ist, diese Schwächen auszugleichen – oder sich irgendwie durch zu schummeln.
Experimentell kann sich jeder fragen, wie er sich als (Schul-)Kind gefühlt hätte, wenn er niemals Mobbing, Ausgrenzung, Konkurrenz oder Schulangst erlebt hätte, niemals Prüfungsangst und Leistungsdruck, sondern wie viel Spaß Schule gemacht hätte, wenn ein Erfolgserlebnis das andere gejagt hätte. Wenn der Lehrer nur einmal gefragt hätte: „Kind, was magst du und was kannst du? Und was kannst du jetzt schon anderen geben, weil du (nur) du bist?“ Wäre nicht jeder mit Freude zur Schule gegangen, wenn er sich mit seinen ureigensten Talenten zeigen und teilen hätte können, und wenn es eben dafür Rahmen und Raum gegeben hätte?
Lebensvorbereitung in der idealen Schule
Die ideale Schule für mich wäre weniger ein „Bildungs-System“ als ein „Menschwerdungs- oder Lebens-System“. Wenn Kinder neben Rechnen, Schreiben und Lesen Fächer hätten wie „gewaltfreie Kommunikation“, „Alternative Geldsysteme“, „Selbstversorgung“, „Naturheilkunde“, „Spiritualität“, „Direkte Demokratie“, „Gesunde Ernährung“, „Überleben in der freien Natur“, „Regeln des gerechten Erfolges“, „Gelungene Beziehung“, „Gelungenes Leben/Lebenskunst“, „Kunst und Selbstausdruck“, „Selbstfindung“, „Ethik“, „Friedens-Kunde“ usw., dann könnte man m. E. nach (erst) davon sprechen, dass Schule auf das Leben vorbereitet.
Sowie im Leben die erste (Lebens- und Sinn-) Krise eintritt, ein Pflegefall in der Familie, eine schwere Krankheit oder schlicht ein dreitägiger Stromausfall, hat i. d. R. niemand etwas parat, was er als Lösung wie das Kleine Einmaleins schon in der Volksschule gelernt hätte. (Anm.: Dass man mit einem kleinen Hobo-Ofen bei einem Stromausfall auch in der Stadt Speisen und Wasser erwärmen kann, hat in der Schule vermutlich niemand gelernt.)
Schule als Produzent von Leistungs-Soldaten
Gegenwärtig ist Schule für mich jedoch mehr eine Vorbereitung und Ausformung von Menschenmaterial für die Weltökonomie. Der Leistungs-Soldat, der in der Schule seine Schwächen tapfer ausgeglichen hat, tut das u. U. auch in der späteren Firma. Er lebt sich nicht selbst, sondern passt sich lediglich den vorhandenen Strukturen an, wobei er natürlich sein Bestes gibt, denn eben das hat er ja in der Schule gelernt: das Beste zu geben – oder sich durchzuschummeln. Doch egal, ob eine Selbstverbiegung oder ein Durchschummeln im späteren Arbeitsleben stattfindet, es bleibt in beiden Fällen die wahre Persönlichkeit des Menschen außen vor. Denn wenn der Mensch je in seiner individuellen Persönlichkeit, bzw. in seinem Talent, gefragt worden wäre, bräuchte er sich weder übermäßig zu verausgaben/anzustrengen, weil er mit Freude arbeiten würde, noch zu schummeln.
Die (autoritären) Lehrer werden von (autoritären) Chefs abgelöst, wieder andere werden selber Lehrer oder Chefs. Selbstredend kann ein edles Motiv hinter der Berufswahl stecken und gewiss gibt es sehr gute, engagierte Lehrer und integere Chefs, doch dies ändert nichts an den vorgegebenen Strukturen. Letztlich muss sich auch der freigeistigste Lehrer an den Lehrplan und der ideellste Chef an Umsatzspannen und Bilanzen halten … Das Gros der Menschen, nämlich Handwerker, Produktionsmitarbeiter, Dienstleister, Verkäufer, Händler usw., ist Befehlsempfänger, bzw. Arbeitnehmer. Damit das gegenwärtige System bestehen kann, braucht es natürlich auch viel mehr Arbeitnehmer als Arbeitgeber. Und diese gehen m. E. nach auch aus dem gegenwärtigen Schulsystem hervor, denn die individuelle Persönlichkeit wird schon in der Schule auf das Nebensächliche marginalisiert, auf Hobbys und Spiel, später findet das Ich dann seinen Lebensraum i. d. R. ebenfalls außerhalb der Arbeitswelt. Es ist dies im Grunde eine unglaubliche Vergeudung von echtem Können, Wollen, das aus der Authentizität einer authentischen Person heraus käme, einer Person, die die Möglichkeit hat, die eigenen Fähigkeiten mit Freude einsetzen zu können, anstatt diese verstecken oder ignorieren zu müssen, weil sie z. B. in der Schule nicht gefördert und in der Arbeitswelt nicht gefragt sind.
Arbeit jedoch, die keinen Sinn ergibt, weil sie lediglich der Existenzsicherung dient, ist für die meisten Menschen Alltag. (Ich spreche hier nicht von Freiberuflern, Selbständigen, Künstlern usw. ,die sich in ihrem Tun selbst verwirklicht haben, sondern wiederum vom Gros der Menschen.)
Lebenslange Themen
Menschen sind und werden in exakt jenen Themen gut, die sie ein Leben lang interessieren und begleiten. Ich habe es in Mathematik auf die Note Befriedigend gebracht. Als das „vollbracht“ war, wusste ich, dass ich mich nie wieder damit befassen oder quälen wollte. Gewiss nicht freiwillig.
Demgegenüber gab es aber Philosophie, Geschichte, Literatur, Filme, Kunst, Bewusstseinserweiterung, Schreiben, Spiritualität usw. Interessensgebiete, die mich schon früh im Leben interessierten und noch heute begeistern. Das heißt, ich würde mich jederzeit freiwillig mit Platon oder Popper beschäftigen (wollen), wenn ich genügend Muße und Zeit habe, jedoch unter derselben Voraussetzung nicht mit Funktionen oder Vektorrechnung.
Berufung und Sinn sind letztlich dort zu finden, wo sich ureigenstes Interesse und Talent mit den Bedürfnissen der Welt kreuzt. Wer diesen Punkt für sich findet, hat letztlich nur noch eine einzige Aufgabe: Besser zu werden, indem was er tut, indem er besser wird, indem, was er (schon) ist. (Falls dieser Satz beim ersten Lesen keinen Sinn ergibt, bitte ich, ihn nochmals zu lesen.) Dieses, Sinn, Berufung und Selbstwerdung, ist jedoch weder im permanenten Ausgleich von Schwächen zu finden, noch in einer Überanpassung an vorherrschende Strukturen und unbotmäßige Leistungserbringung, sei es für eine (gute) Note, für einen Abschluss, für Lohn oder Gehalt.
Buchverweise im Text:
Dr. Gerald Hüther: Jedes Kind ist hochbegabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen – Buchlink
Dr. Gerald Hüther: Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist – Buchlink
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Oh Wow! 🙂 Diesen Artikel ♡ Beitrag schätze ich ganz besonders! Yaesy!
Die Bildung`s Zentren – sollten stets auf die Potenzialentfaltung ausgerichtet Sein, damit Freude wirklich gelebt werden kann. Auch meines Erachtens sind die Interessen der Kinder stets mit Freude und Begeisterung, sowie wundersamen Staunen verbunden und ergänzen sich nicht nur ~ sondern, es entsteht erst dadurch die volle Kapazität der Möglichkeiten + ^ – um so wirklich das volle Potenzial auszuschöpfen, „ans Licht zu bringen“, wie das auch von Gerhard Hüter propagiert wird.
Liebe Tanja, ich bewundere Deine Intelligenz und Fähigkeiten, Deinen Scharf Sinn genauso, wie Deine charmate und witzige Herzlichkeit!
Sehr gerne verlinke ich diesen noch auf meinem Blog! Hey liebes Du, von ganzem und innigem Herzen ♡ bin ich Dir Dankbar für Deine Unterstützungen, Ermutigungen, Inspirationen … für Deine sooo wundervollen Wortspielerein! 🙂 Ich lerne von Dir und ich lese Dich sehr gerne!
Lieber Herzgruss 😙
Roger
Hallo Roger!
OH, das ist aber ein sehr herzlicher, zugeneigter und ermutigender Kommentar. 🙂
Lieben, lieben Dank dafür!
Liebe Grüße,
Tanja