
Eine mögliche Antwort darauf ist: Menschen schlagen sich gerne auf die Seite der Sieger, auf die Seite der Starken, auf die Seite der Mehrheit, weil das einen gewissen Schutz bietet. Ob die Mehrheit „richtig“ oder „falsch“ liegt, ist nebensächlich. So ähnlich agieren auch Kinder oder Teenager in der Schule. Schließt sich erst einer dem Lautesten oder Stärksten in der Klasse an, werden es bald drei, bald vier und bald die halbe Klasse. Wer nicht mitmacht, gehört nicht zum „Club“ und wird unter Umständen gemobbt.
Ob der Stärkste mit seiner Ansicht richtig oder falsch ist, ist zweitrangig. Primär geht es darum, den Herdenschutz zu genießen und nicht ausgestoßen zu sein.
Hieße es in den Medien plötzlich „Alle Kritiker hatten von Anfang an recht“ und/oder hieße es „Ab jetzt gibt es direkte Demokratie“, würden auch die, die es gewöhnt sind, sich anzuschließen, umschwenken, insofern eine Mehrheit dahinter steht oder dies nur oft genug in den Medien wiederholt werden würde. Dass das kein plötzlicher Gesinnungswandel ist, ist klar, denn eine Gesinnung gab es auch vorher nicht (wirklich) …
Das ist u. a. eine Antwort auf die Frage, warum sich Leute angesichts augenscheinlicher Gegenbeweise zu einem bestimmten Sachverhalt nicht neu positionieren. Es geht nicht um Wahrheit, Tatsachen oder um Recherchefaulheit, sondern lediglich darum, wer von oben herab etwas vorgibt und wieviele Menschen mitmachen. Es geht darum, mitzumachen, nicht aufzufallen und/oder anzuecken.
Angst vor Repressalien und Verwirrung
Zwei weitere Gründe, warum Menschen sich politisch weder organisieren noch wehren (können), sind Abhängigkeitsstrukturen und/oder Verwirrung.
a) Abhängigkeit: Wer politisch in Zeiten Coronas (zu) laut und/oder aktiv wird, darf vermutlich nicht gerade ein Lehramt bekleiden, im Krankenhaus arbeiten oder eine große Netzöffentlichkeit genießen. Dienstgeber drohen z. B. mit Kündigungen, Universitäten exmatrikulieren Studenten usw. … Auf dem Spiel steht also nicht nur die eigene Karriere, sondern auch ein geregeltes Einkommen.
b) Verwirrung: Wenn Sachverhalte wiederholt von einer Seite verifiziert und von einer anderen Seite falsifiziert werden, entsteht Irritation. Nicht zu wissen, was letztendlich wirklich wahr und gültig ist, erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit. Während der Corona-Krise wird/wurde z. B. medial häufig auf Expertise verwiesen. Gleichzeitig meldeten sich Ärzte, Wissenschaftler und Epidemiologen weltweit im Netz oder auf unabhängigen Plattformen zu Wort, die z. B. zur Maskenpflicht und/oder der Gefährlichkeit des Corona-Virus (SARS-CoV-2) eine gänzlich andere Position vertreten.
Der Normalbürger weiß nicht (mehr), was stimmt. Die Verwirrung führt zu einer politischen Lähmung bzw. wiederum zu eingangs dargestelltem Phänomen: Der Mensch schließt sich automatisch der Mehrheit oder einer vermeintlichen Mehrheit an. Die Mehrheit – so die unbewusste Annahme – kann nicht falsch liegen. Dass dies jedoch so nicht stimmt, hat die Geschichte wiederholt bewiesen.
Der Untertan aus psychologischer Sicht
Rainer Mausfeld (geb. 1946), Buchautor und Professor für Allgemeine Psychologie, hat sich intensiv mit Kritik an der Repräsentativen Demokratie, Funktion der Massenmedien, mit Demokratiemanagement, Machtstrukturen und Weißer Folter beschäftigt. Sein Buch „Warum schweigen die Lämmer“ wurde zum Spiegel-Besteller, viele seiner Youtube-Vorträge gelten insbesondere bei jungen Erwachsenen als Neu-Aufklärung (der Gegenwart) und treffen den Nerv der Zeit …
Lt. Prof. Rainer Mausfeld gibt es keine tatsächliche Demokratie, sondern eine Demokratie-Simulation, in welcher vormals demokratische Strukturen mehr und mehr zum Verschwinden gebracht werden. Dies geschieht über „Demokratie-Verwalter“, ferner über Meinungslenkung und Vormarsch des Neoliberalismus.
Der Neoliberalismus wiederum ist – frei nach Prof. Rainer Mausfeld – sozusagen der Superlativ des Kapitalismus. Dabei bedeutet Neoliberalismus nicht ökonomische Freiheit, sondern Entsolidarisierung und Abbau des Sozialstaates.
Die Machtstrukturen zeigen sich u. a. durch die Medien, durch Polizeigewalt, durch das „Hartz-4-Regime“ sowie durch Einschränkung des öffentlichen Debattenraums via medialer Diffamierungsbegriffe: „Verschwörungstheoretiker“, „Querfront“, „Reichsbürger“ etc. … Damit werden mentale Sperrgebiete errichtet.
Die repräsentative Demokratie ist sonach ein Sedierungs-Instrument für das Volk, wobei die Technik, Falschidentitäten zu entwickeln, zur Perfektion entwickelt wird.
Anm.: Es ist m. E. das große Verdienst Rainer Mausfelds, dass er Menschen für die verschiedensten psychologischen Beeinflussungstechniken sensibilisiert. Rainer Mausfeld zu hören und zu lesen, ist nicht nur wegen seiner Sprachgewandtheit empfehlenswert, sondern für viele Menschen oberste Bürgerpflicht geworden …
Buchverweis: Prof. Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? – Buchlink
Der Untertan aus literarischer Sicht
Der deutsche Schriftsteller Heinrich Mann (1871 – 1915) erzählte mit ironischer Distanz die fiktive Lebensgeschichte Diederich Heßlings im Roman Der Untertan. Dieser Roman bringt nicht nur ein historisches Deutungsmuster jener Entwicklung, die Deutschland in den ersten Weltkrieg hineinführte, sondern porträtiert eine Gesellschaft, die sich zusehends passiver von den Strömungen des Zeitgeistes beeinflussen ließ. Heinrich Mann zeigte eine Gesellschaft, die nur auf ihre eigenen, kleinen Vorteile bedacht ist, die rücksichtslos nach oben buckelt und nach unten tritt. Er zeigte Menschen, die wahllos politische Strömungen für sich nutzten, insofern es opportun war: Dies konnte wechselweise wohl dosierter Antisemitismus oder die Angst vor dem Sozialismus sein.
Auffallend an Heinrich Manns „Der Untertan“ ist die umfassende Anpassungsfähigkeit Diederich Heßlings und anderer Protagonisten: Solange es Sicherheit oder Gewinn versprach, arrangierte man sich mit politischen oder kulturellen Strömungen. Dabei entpuppte sich Diederich Heßling, nach Max Horkheimer und Theodor Adorno, als „autoritärer Charakter“.
„Der Untertan“ diente in der Rezeption eine gewisse Zeit lang als Beleg typisch deutscher Knechtseligkeit. Mittlerweile wird die Einschätzung Heinrich Manns selbst herangezogen. Dieser schrieb 1919 im Essay „Kaiserreich und Republik“: „Die Eigenschaften des Untertans sind die, worauf das Reich gegründet war. Sie machen nicht den Deutschen aus, nur den Untertan.“
Buchverweis: Heinrich Mann: Der Untertan – Buchlink
Ist es möglich, etwas zu verändern?
Prof. Rainer Mausfeld schloss, dass keine demokratische Struktur dazu geeignet wäre, bestehende Verhältnisse zu ändern. Nach Mausfeld kann eine Veränderung nicht über eine neue Partei, nicht über Neu- und/oder Protestwahlen erwirkt werden, weil die Machtstrukturen der Repräsentativen Demokratie inhärent seien. Dies verhält sich analog zur Mechanik eines Autos: Egal, wer fährt, das Auto funktioniert immer gleich. Es ändert sich über den Fahrer nichts am inneren Aufbau des Autos.
Mehr Durchschlags- und Veränderungskraft hätte – lt. Mausfeld – dagegen der monatelange Gelbwestenaufstand in Frankreich (gehabt).
Demonstrationen haben insofern eine gewisse Veränderungsenergie, weil sie andere Menschen aufwecken und aktivieren können. Auf Regierungen haben Demonstrationen wiederum wenig Einfluss: Wenn nicht mit Polizeigewalt oder Gegendemonstrationen reagiert wird, werden Demonstrationen politisch ignoriert oder mit vagen Zukunftsversprechen „ausgehungert“.
Insofern jedoch eine bestimmte kritische (Menschen-)Masse erreicht ist, kann die Gesinnung zur Gänze umschwenken. Dies ist u. a. beim Berliner Mauerfall 1989 geschehen. Im DDR-Staat fühlten sich viele Menschen unwohl, aber nicht alle. Eine bestimmte Gruppe von Menschen wurde aktiv, viele waren nach wie vor eingeschüchtert, „Untertan“ und/oder opportunistisch …
Als jedoch diejenigen, die eingeschüchtert oder angepasst waren, merkten, dass etwas passiert, schlossen sich mehr und mehr an … Hätten die Menschen damals Demonstrationen brav angemeldet oder sich an formelle Weisungen gehalten, stünde die Mauer vermutlich heute noch. Es braucht also ein gewisses Empörungspotential, das sich Bahn bricht und bestehende Normen/Verordnungen missachtet. Natürlich ist eben dies in der Französischen Revolution (1789 – 1799) geschehen.
Das effektivste und modernste Mittel zur unmittelbaren Veränderung wäre m. E. Steuerenthalt. Wenn alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber, d. h. jene Personen, die die Leistung im Staat tatsächlich erbringen, zur Monatsmitte gesamt keine Steuer mehr abführen würden, kann der Staat nicht gegen alle Bürger vorgehen. Er kann nicht alle belangen, bestrafen, einsperren etc. … Es sind innerhalb der repräsentativen Demokratie Geldmittel, die den politischen Kurs permanent fortsetzen und Regierungen mit Macht ausstatten. Eine Legitimation via Wahl spielt dagegen kaum eine oder keine Rolle. Innerhalb von zwei bis drei Tagen müsste eine Regierung sofort auf den wie auch immer gearteten Willen des Volkes reagieren, weil ansonsten das ganze System und jedwedes neoliberalistische Denken zusammenbräche. Die Achillesferse jeder Regierung ist das Steuersystem: Sowie dieses stillsteht, ist dies mit einem politischen „Herzinfarkt“ gleichzusetzen.
Auch konsequent durchgeführte Nichtwahl könnte bei ausreichender Beteiligung eine Änderung bewirken. Näheres hierzu im Artikel: Wählen gehen oder nicht?.
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