Eine buddhistische Spruchweisheit besagt, dass alles, was einen ärgert/erzürnt, dazu da ist, Vergebung und Mitgefühl zu lernen. Unter gewissen Umständen mag dies zutreffen. Doch manchmal sind Wut, Ärger und Zorn auch in der Spiritualität gerechtfertigt.
Gibt es gerechten Zorn?
Jesus sprach von „heiligem“ oder „gerechtem“ Zorn. Jesus selbst soll heiligen Zorn empfunden haben, als er die Geldwechsler und Händler vor dem Jerusalemer Tempel vertrieben hat. Bekannt ist, dass er ihre Stände und Tische umgeworfen haben soll … Lt. Bibel war Jesus sehr zornig. Wut aus spiritueller Sicht, bzw. heiliger Zorn tritt in weisen, spirituellen oder zutiefst ethischen Menschen häufig dann auf, wenn ethische oder moralische Prinzipien verletzt werden. Unter diesen Umständen sind Wut und Ärger positive Kräfte, die als Korrektiv nach außen wirken.
Klassifikationen von Wut, Ärger und Zorn
Ärger kommt relativ häufig vor und ist sozusagen die Light-Variante der Wut. Auch Empörung und Entrüstung können mit Ärger verknüpft sein, sowie Groll und vager Hass.
Wut kann plötzlich und eruptiv sein, dies z. B. bei cholerischen Charakteren. Darunter fällt auch Jähzorn, Tobsucht, Rage, Raserei.
Kalte Wut entspricht eher dem rationalen Menschen, der z. B. mit Kalkül an Rache denkt.
Rache als Topos
In literarischer Sicht gibt es das berühmte Racheepos von Alexandre Dumas (1802 – 1870), nämlich „Der Graf von Monte Christo“. Vermutlich weiß jeder, der den Roman/Film kennt, dass sich die Dramaturgie des Buches/Filmes zum Ende hin mehr und mehr auf Satisfaktion (Genugtuung) hinbewegt. Der Graf von Monte Christo tötet alle seine Peiniger und Widersacher, die ihm sein Leben verunmöglicht haben, all jene, die ihn einst vom höchsten Glück in den tiefsten Abgrund gestürzt haben. Da der Leser/Zuseher etwa zwei Drittel des Romans/Films mit dem Grafen mitleidet, er das erlittene Unrecht und die Demütigungen miterlebt, werden des Grafen Vergeltungsschläge am Ende beinahe wie eine Wohltat/Erleichterung empfunden. Somit ist das Gleichgewicht wieder hergestellt, die Kränkung gesühnt.
Aus spiritueller, bzw. karmischer Sicht ist Rache grundsätzlich falsch, sowie Krieg nicht mit Krieg beantwortet werden sollte und Mord nicht mit Mord. Dennoch kann es Situationen geben, in welchen es empfehlenswert ist, einen Ausgleich zu suchen.
Wiederherstellung der Balance
Wut an sich ist also zunächst nichts anderes als ein Gefühl, das nach tatsächlicher oder vermeintlicher Kränkung nach Ausgleich strebt. Zu prüfen bleibt, ob die Wut nach ethischen Maßstäben „gerecht“ ist. Je nach Vorfall wäre über die Spiritualität hinauszusehen, ob es einen rechtlichen Rahmen gibt, dies z. B. wenn Verletzungen/Kränkungen geschehen sind, die nach geltendem Recht nicht rechtens sind. Manchmal will Wut auch „gelebt“ werden, dies jedoch nicht in blindem, rasenden Zorn, sondern dahingehend, dass Menschen lernen, die eigenen Grenzen zu verteidigen, besser auf sich selbst zu achten und mehr für sich selbst einzustehen.
Abzugrenzen hiervon ist z. B. die Wut des Cholerikers oder die Wut jener Menschen, deren Toleranz- und Frustrationsschwelle relativ niedrig ist. Aus spiritueller Sicht vergiften wütende Choleriker die spirituelle und energetische Sphäre mit ihren Ausbrüchen, insbesondere, wenn die Ausbrüche aus Nichtigkeiten heraus geschehen. Gelassenheit, Meditation, Geduldübungen können dem Choleriker helfen, wie auch Übungen zur Aggressionsbewältigung. Dem Umfeld ist eher durch energetischem Selbstschutz und/oder Distanz geholfen.
Die andere Wange hinhalten?
Jesus sagte: „Widersteht nicht dem, der böse ist, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so wende ihm auch die andere zu.“ (Matthäus 5:39).
Seine Grundhaltung war: Sei bereit, zu geben und zu vergeben, sei bereit, dir Unrecht antun zu lassen.
Wiederum ist diese Haltung ethisch hochstehend, da karmisch weitblickend.
Auf einfacherer Ebene, im Alltag z. B., ist es nicht mehr ganz so einfach. Wenn Eltern z. B. ihre Kinder erziehen, ist es mitunter notwendig, Grenzen zu setzen und/oder konsequent zu sein. Dasselbe gilt auch in Paarbeziehungen und in Freundschaften. Ein gängiges Beispiel ist der „gute Freund“, der ständig knapp bei Kasse ist oder die „liebe Freundin“, die sich immer nur dann meldet, wenn sich der Partner oder Exfreund wieder einmal daneben benommen hat. Sich jedoch wie auch immer ausnutzen zu lassen, sei es finanziell, energetisch oder emotional, dient niemandem. Die nehmenden Menschen kommen nicht in die Eigenverantwortung und die gebenden Menschen fühlen u. a. Unmut, Frustration und Ärger. In diesem Fall ist es nicht ratsam, „die andere Wange hin zu halten“, sondern sich abzugrenzen. Die unangenehmen Gefühle wie Unmut und Ärger sind hier deutliche Signale.
Ist Wut in der Spiritualität gerechtfertigt?
Es kommt auf die wuterzeugende Ursache an, wie gerechtfertigt Wut (generell) ist. Unter Umständen ist es ratsam, Gefühle auszuleben und nicht spirituell zuzudecken, nicht, wenn jemand anderer sich unethisch, d. h. unehrlich, falsch, egoistisch etc. verhält … Und vielleicht soll auch nicht per se alles vergeben und vergessen werden, auch wenn es der Buddhismus so lehrt, vielleicht gibt es Situationen, in welchen man für einen anderen Menschen viel mehr eine Lehre oder eine Lektion ist, gerade weil und wenn man sich nicht alles gefallen lässt, als wenn man liebevoll lächelnd dastünde und alles quasi schon prophylaktisch „vergibt“ – auch wenn noch gar nichts geschehen ist.
Bedingungslose Wut
Negative Gefühle wie Wut, Zorn und Ärger haben in der Spiritualität sowie im Lebensalltag unter ethischen Gesichtspunkten somit eine Berechtigung. Weiters können sie Signale sein, Grenzen zu setzen, oder, im umgekehrten Fall, ein Signal zur Charakterverbesserung/Läuterung sein. Negative Gefühle richtig zu fühlen kann lebensspendend und lebenserhaltend sein. Bedingungslose Wut – um ein Pendant zur bedingungslosen Liebe zu schaffen – richtig zu fühlen, kann, je nach Situation, essentiell und richtig sein und ist nicht per se eine Charakterschwäche, noch deutet es auf eine „hinkende Spiritualität“ hin oder auf jemanden, dessen Ego noch ganz große Ecken und Kanten hat. Im Gegenteil: Je nach Situation und ethischer Gewichtung deutet es auf jemanden hin, der noch unverfälscht und ganz in seiner wahren Kraft ist.
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