In diesem Interview mit dem Titel Was ist Kundalini spricht Dr. Lee Sannella u. a. darüber, was Psychosen von Kundalini und einem spirituellen Erwachen unterscheidet.
Biographie:
Dr. Lee Sannella, Verfasser des Buches „Kundalini Erfahrung und die neuen Wissenschaften“, war Augenarzt und Psychiater. Er wurde 93 Jahre alt und starb im Jahr 2010. Lee Sannella studierte Medizin an der Yale University in den USA und lehrte an der Universität von Kalifornien und weiteren akademischen Einrichtungen. Im Alter von 60 Jahren begann er mit Körperübungen, Diäten und Fasten zu experimentieren. Dabei entdeckte er die Verbindung von Körper und Geist. Als Mitbegründer der Kundalini-Klinik in San Francisco 1974 half er vielen Kundalini-Betroffenen durch ihren Prozess.
Interview-Auszug „Thinking Allowed“ mit Dr. Jeffrey Mishlove. Viedeolink hier.
Interview-Übersetzung: Dr. Lee Sannella
Mishlove: Du hast den Begriff „Nadis“ vorgestellt. Ich denke, du beziehst dich auf Energiezentren wie Ganglien (Nervenknoten). Die Nadis laufen an den Armen und Beinen entlang, an den Seiten, vergleichbar den Akupunktur-Meridianen. (Anmerkung: Mit Nadi, sanskrit, नाडि, nāḍi = Kanal, Röhre, werden im Tantra und im Yoga feinstoffliche Energieleitbahnen bezeichnet.)
Lee Sannella: Das ist ein guter Vergleich.
Mishlove: Und ebenso gibt es im Yoga das Konzept der Chakren, welche zentrale „Organe“ der geistigen Energie sind, die an der Wirbelsäule liegen und bis hinauf zum Dritten Auge reichen. Davon hören wie ja sehr oft. Das sind Konzepte, die sehr stichhaltig und detailliert in der Yoga-Philosophie dargestellt sind. Soviel ich weiß, nimmst du diese Konzepte als Mediziner auch sehr ernst.
Lee Sannella: Nicht wirklich. Was ich ernst nehme, ist das „neue Ereignis“ im Gehirn. Ein neues psycho-physiologisches Phänomen im Gehirn – das ist Kundalini für mich. Die Zeichen und Symptome, und die Beschreibungen, die sich auf das Rückenmark und die dazu gehörenden Systeme beziehen – was auch immer sie sind, Akupunktur-Punkte, Nadis, Meridiane usw. -, sind alles Derivate (Abkömmlinge) dieses zentralen Geschehens im Gehirn, was eine Veränderung an sich ist, die wiederum eine psycho-physiologische Veränderung am ganzen Körper darstellt. Und diese Veränderung gibt der Person, die spirituell ist, die Ausrüstung, um sich viel besser mit dem Göttlichen verbinden zu können. Das wiederum ist, wie du sagtest, die ursprüngliche Bedeutung des Yoga.
Mishlove: Nun, die Erfahrung, die man Kundalini nennt, diese Veränderung im Gehirn … Wenn jemand im hinduistischen Kulturkreis oder in anderen vergleichbaren Kulturen aufwächst und dort von seiner Erfahrung spricht, wird er in diesem spirituellen Kontext sofort erkannt: „Oh ja, das ist Kundalini.“ Und in diesem sozialen Rahmen wird die Person auch behandelt. Doch in unserer Kultur, wenn eine Person die typische Kundalini Erfahrung macht – und soviel ich weiß, hast du mit vielen Personen gearbeitet, die Kundalini spontan oder durch Meditation erweckten – was geschieht dann? Wie werden die Personen behandelt?
Lee Sannella: Tja, es ist weitgehend etwas, von dem die Betroffenen gelernt haben, nicht zu viel darüber zu sprechen, weil die Menschen meistens kein Verständnis davon haben und deshalb erscheint man ziemlich komisch, das heißt, mehr als komisch: Man erscheint ernsthaft heimgesucht.
Mishlove: Mit anderen Worten: In der einen Kultur wird es als ein sehr glückverheißendes Erlebnis betrachtet; die Leute sind glücklich, bekommen sehr viel positive Aufmerksamkeit und Unterstützung, um durch die Erfahrung zu gehen, damit sich alles entfalten kann. Aber in unserer Kultur ist die Antwort auf Kundalini das Gegenteil.
Lee Sannella: Ja. (Themawechsel) Und da gibt es viele andere Zugänge. Doch Kundalini – wahrscheinlich sollten wir es den „Meister-Zugang“ in die Psycho-Physiologie des Menschseins nennen. Aber es gibt viele vorherige und andere Zustände, psychische Zustände, die mit den Yoga-Siddhis oder paranormalen Kräften korrespondieren. Wie beispielsweise die außerkörperliche Erfahrung oder Bilokation (= Fähigkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein), und alle sind real. Sie sind im Yoga klar definiert. Und die Menschen erfahren diese Zustände.
Mishlove: Und Menschen erfahren diese Zustände ohne überhaupt in irgendwelche spirituellen Praktiken involviert zu sein?
Lee Sannella: Natürlich.
Mishlove: Und es ist einmal mehr verwirrend für diese Leute?
Lee Sannella: Ja. Mir schrieben Menschen die verrücktesten Sachen: „Befreie mich von diesem Zustand! Ich will das nicht mehr. Es stört mich. Ich kann nicht mehr zur Arbeit gehen, ich kann nicht mehr schlafen. Es ist alles sehr ärgerlich“. Und das ist es wirklich in einigen Fällen für einige Leute.
Mishlove: Lass uns noch über Psychosen sprechen. Ich denke, diese Erfahrungen lösen sich von der Realität: Menschen hören Stimmen, haben Visionen, haben physische Beschwerden ohne organische Ursachen. Das sind alles typische Symptome der Psychose. Betrachtest du alle Psychosen als spirituelles Erwachen?
Lee Sannella: Nein. Psychosen können das spirituelle Erwachen begleiten, teilweise oder ständig. Und die beiden, Psychose und spirituelles Erwachen, können und sollen unterschieden werden, denn die Psychose ist nichts, was wie ein spirituelles Erwachen verstanden werden muss. Das spirituelle Erwachen ist ein normaler Prozess.
Mishlove: Kannst du die Psychose definieren und dann versuchen, sie von einem spirituellen Erwachen zu unterscheiden?
Lee Sannella: Für gewöhnlich hat der psychotische Mensch keinen Einblick in all diese Vorgänge. Es ist eine geistige Verwirrung, ohne dass sich der psychotische Mensch als verwirrt erkennt. Das ist eine grobe Definition. Aber du bekommst eine sehr klare Vorstellung davon, was psychotisch und nicht psychotisch ist, wenn du ganz normal mit jemanden sprichst, und er plötzlich mit einem ganz neuen Thema beginnt oder er überhaupt keine emotionale Reaktion zu bestimmten Dingen zeigt, er dagegen extrem emotional bei bestimmten anderen Dingen reagiert, das heißt, er unangebrachtes Verhalten zeigt usw.
Mishlove: Ein klassisches Beispiel der Psychose zeigen uns jene Menschen, die sich für Jesus halten. Manchmal kennzeichnet das ein wahres spirituelles Erwachen, manchmal aber auch nicht.
Lee Sannella: Ja.
Mishlove: Doch das unterscheiden zu können, ob es nun ein spirituelles Erwachen ist oder nicht, ist sicher sehr subtil und schwierig.
Lee Sannella: Ja. Das ist es. Und es kann sich von Moment zu Moment in der Person selbst auch ändern, vor allem, wenn sie sehr instabil ist.
Mishlove: Hattest du in deiner Arbeit, in der Entwicklung des Verfahrens in der Kunalini Klinik, viel Zeit mit Menschen verbracht, die ein wahrhaftiges spirituelles Erwachen hatten, die allerdings psychotisch schienen und ebenso Unterstützung aus dem westlichen Kontext brauchten?
Lee Sannella: Ja. Das ist die erste Art und Weise der Behandlung. Diese Unterstützung für diesen Teil ist, wie ich sage, erklärbar und verständlich, in historischen Begriffen und in Begriffen aus Mischkulturen heraus, weil es einfach in allen Kulturen auftritt. Und jener Teil, der universal für den Menschen ist, ist ebenso sein geistig verwirrter Zustand.
Mishlove: Ich nehme an, dass die wesentlichste Art der Hilfe darin besteht, einfach für die Person da zu sein, sie sprechen zu lassen, was sie gerade erfährt, ohne sie zu verurteilen.
Lee Sannella: Ja. Ich würde auch sagen, dass das die wesentlichste Therapie ist.
Mishlove: Beinhaltet es z. B. auch das gemeinsame Meditieren?
Lee Sannella: Manchmal, ja. Natürlich nur dann, wenn es für den Therapeuten stimmig ist. Manche von uns (Therapeuten) haben dafür ein Talent, manche haben für etwas anderes Talent usw.
Mishlove: Ich denke, ein großes Problem für Menschen, die gerade ein spirituelles Erwachen oder eine Kundalini Erfahrung haben, ist, wie es die Beziehungen zu ihrer Familie, zu ihren Kindern beeinflusst. Wie sollen sie mit Menschen kommunizieren, die überhaupt keinen Bezug dazu haben?
Lee Sannella: Ja. Das ist eine der Hauptschwierigkeiten. Und deswegen werden noch mehr Leute instabil, eben weil sie dieses Ventil nicht haben, das Verstehen um sie herum. Es ist ziemlich schwierig. Ebenso können diese Menschen ziemlich großartig/überheblich werden, als Kompensation, gerade weil sie sich im Stich gelassen fühlen.
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Liebe Tanja
wiederum herzlichen Dank für deine Arbeit und die Veröffentlichung des Interviews von Lee Sannella!
Geprägt seines Klinikalltages gibt es gute Freisicht auf den ursächlichen Grund von Psychosen als Ergebnis missverstandenem Tuns in unserer mental römisch geprägten „Sklavengesellschaft“ mit dem Attribut „körperliche Leistung“ als fast göttlich versus der Anerkennung als wertvolle Person in den zivilisatorisch einigen tausenden Jahren älteren Kulturen im Gürtel von Arabien, Persien, Indien bis weit in die chinesischen Länder und als spirituell bereichernd für die Gesellschaft. So aufgehoben im Schose der Vernunft blüht man auf und verwelkt nicht.
So banal die Erkenntnis ist, in einer Sklavengesellschaft auf mehr Gegenströmung zu treffen, bleibt doch trüb im Wasser den Grund erahnbar und vermittelt so schon mal Orientierung und Sicherheit. Nebenbei bemerkt spricht es den Zustand an Verachtung wieder, wenn wir Wörter aus Indien bemühen müssen um naturgemässe Vorkommnisse zu betiteln um unser fehlender Anker zu erstatten der Halt bieten würden. Herrn Sannella`s Arbeit könnte sich in Folge mehr Richtung Entwicklung denn der Psychosebehandlungen bewegen und seinen Ideen die er über Kundalini hegt weiterverbreiten.
In seiner Antwort zu zweiten Frage kann Mann ihn sehr gut verstehen, und ich kann gut nachvollziehen wie er Kundalini definiert.
Wichtig ist aber die Orientierung, die Ordnung zu finden die Sinn ergibt und mir so den Pfad weist.
Auf deinem Blog, liebe Tanja bin ich in kurzer Zeit nun drei mal fündig geworden, so wie das heutige Interview. Selten genug ergibt sich so ergiebige Lektüre und herze dich, hm drei mal, wünsch dir weiter viel Glück mit dem Blog und herbstlich schönen Tag -Stedi
Lieber Stedi,
herzlichen Dank für deinen Kommentar! 🙂
Na, das macht (mir) doch mal wieder Mut und Freude und Schwung! 😉 Merci.
🙂
Danke!
Mit lieben Grüßen,
Tanja Braid