Viele kennen es: „Ach, hätte ich doch bloß etwas gesagt!“ Der Chef war zynisch oder laut, ein Kollege intrigierte, jemand drängte sich an der Kasse vor, die Mutter kommentiert ungefragt das eigene Leben und weil Klein-Paul bei dem Hinweis, dass er das Essen nicht an die Wand werfen soll, drei Stunden lang hysterisch schreit, verkneift sich die Mutter die Ermahnung und putzt danach schweigend die Wand.
Warum nehmen sich Menschen zurück?
Es gibt viele Situationen, in welchen Menschen sich zurücknehmen. Die häufigste und mitunter bekannteste Situation, in welcher Menschen sich zurück nehmen und schweigen, ist bei spontanen Angriffen. Es sind dies Angriffe, die nicht vorhersehbar sind. Ein ansonsten freundlicher Kunde wütetet z. B. plötzlich am Telefon oder ein neuer Partner, dessen Schokoladenseite langsam bitter wird, spricht eine entwürdigende Äußerung aus. Die Verbalfäkalien, der Schimpf oder die haltlosen Anschuldigungen waren in keinster Weise absehbar.
Danach macht sich häufig Ärger breit. Noch stundenlang danach entwirft das Gehirn unzählige – und reichlich kreative – Szenarien, wie man reagieren hätte können und was man hätte sagen können.
Dem Überrumpelungs-Angriff entgegen steht ein sich wiederholendes Verhalten von Menschen, das innerlich Unbehagen/Spannung erzeugt, jedoch irgendwann gebilligt wird. Häufig entschuldigt hier die Ratio in Verbindung mit Resignation das störende Verhalten: Man hat z. B., um des lieben Friedens willens, nichts gesagt, weil man die Eltern, den Partner, die Kinder sowieso nicht ändern kann, weil man schon fünfmal etwas gesagt hat und sich nichts ändert, weil es sowieso nichts (mehr) bringt, weil man andere nicht verletzen möchte usw. …
Im Berufsleben kommen Abhängigkeitsverhältnsisse mit dazu. Aus Angst, sich vor dem Chef zu behaupten und u. U. den Job zu verlieren, werden unsachliche Anschuldigungen, Herabwürdigungen, Angriffe auf die eigene Person usw. hingenommen. Eine etwaige Angst vor Autoritätspersonen kann hinzukommen. Häufig ist diese Angst mit Sprechangst verbunden, die nur im direkten Umfeld der Autoritätsperson auftritt. Die Angst, sich emotional zu entblößen, sei es durch Stottern, Erröten, zitternde Hände usw., verhindert ebenfalls, sich selbst zu behaupten.
Folgen von unterlassener Selbstbehauptung
Was jedoch geschieht, wenn Menschen sich nicht selbst behaupten? Wenn sie nicht für sich selbst einstehen?
Wer zum wiederholten Male schweigt, obwohl er ein inneres Unbehagen empfindet, sagt damit aus, dass seine Meinung, sein Wesen, seine Persönlichkeit und seine Bedürfnisse es nicht wert sind, angehört und respektiert zu werden. Er erlaubt anderen Menschen, seinen Eigenwert festzulegen und wird mit jedem Mal, da er es unterlässt, für sich selbst einzustehen, in seinem Selbstwert geschwächt. Dies kann bildlich so dargestellt werden, dass in jeder Situation, in welcher ein Mensch etwas sagen hätte wollen, aber geschwiegen hat, er dem Menschen, der das Unbehagen hervorruft, eine große Menge Energie schenkt. Es ist so, als schaufelte er „sich selbst“ hinüber zum Aggressor, Provokateur oder hinüber zu einer unhöflichen Person. Andersherum: Es ist so, als erlaubte er dem Umfeld, bei ihm zu graben, sei es Bodenschätze oder nach anderen Reserven, die jedoch sein Eigentum sind.
Schlechte Empfehlungen und zu große Empathie/Toleranz
Leider wird oft die Empfehlung gegeben, andere Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Tolerant zu sein. Sich nicht zu ärgern. Dem keine Energie zu geben oder es nicht persönlich zu nehmen, eben weil man andere Menschen ohnehin nicht ändern kann, sich die Mühe und den Ärger daher sparen kann … Unter Umständen können diese Empfehlungen richtig sein. Z. B. hatte er/sie vielleicht mal schlechte Laune oder einen schlechten Tag.
Auch stimmt es i. d. R., dass andere Menschen gar nicht oder schwer geändert werden können, dennoch fehlt bei den Empfehlungen der Hinweis, dass es weniger darum geht, andere Menschen zu verändern, als darum, die persönliche Stärke zu erhöhen und den Energieverlust zu minimieren oder gänzlich verhindern. Wer sich daher „bestehlen“ lässt und dann noch den Ärger verdrängt, weil sich auch Ärger nicht lohnt, überhört ein sehr deutliches Zeichen an ihn, nämlich: „Obacht! Das darf in Zukunft nicht noch einmal geschehen!“
Wenn das innere Gefühl z. B. detektiert, dass eine gewisse Situation so nicht richtig ist, weil verbale Übergriffe, unterschwellige Herabwürdigungen, Respektlosigkeiten usw. geschehen, dann ist dies ein Hinweis auf eine Grenzverletzung. Der Energieverlust wie oben beschrieben ist dann schon geschehen, etwaige Empfehlungen verhindern den Energieverlust nicht, noch beugen sie weiteren Grenzverletzungen vor.
Wer kann sich schlecht behaupten?
Meiner Erfahrung nach sind introvertierte, schüchterne und stille Menschen leider häufig mit Grenzverletzungen konfrontiert. Obwohl introvertierte, ruhige und höfliche Menschen gemeinhin als sympathisch und angenehm empfunden werden, rettet sie i. d. R. niemand vor Über- oder Angriffen.Auch Menschen, die sich in bedingungsloser Liebe üben, übertünchen Grenzverletzungen gerne damit, dass mit genügend Liebe die betreffende Person irgendwann von ihrem negativen Verhalten ablassen wird. Das kann in gewissen Situationen richtig sein, doch in vielen Situationen ist eben diese Haltung der eigenen Psychohygiene abträglich.
Junge Menschen, die ihre eigenen Grenzen entweder nicht fühlen und/oder sich ihrer Grenzen noch nicht klar sind, sind ebenfalls häufig betroffen.
Doch auch reife, mitunter weise Menschen dulden negatives Verhalten, weil sie Weltangelegenheiten von einer sehr tiefen Ebene aus begreifen und/oder sehr genau fühlen, auf welcher Entwicklungsstufe der betreffende Mensch gerade steht. So entsteht aus großem Verstehen/Erkennen ebenfalls Schweigen, weil der weise Mensch meint, sich das jetzt nicht „antun“ zu müssen/zu wollen: Einen anderen zu korrigieren wäre (ja nur) Energieverlust und überdies sähe man ja sehr genau, dass er so ist, weil er es noch nicht besser weiß/kann … Obwohl ich z. B. diese Haltung nachvollziehen kann, bringt sie jedoch nichts, wenn das Innere eines weisen Menschen – die Seele – den Energieverlust erleidet. Es ist dies ein Problem, das vor allem Alte Seelen mit „Kindmenschen“ (noch) haben. Aber auch unbewusste oder junge Seelen können Schaden verursachen. Hier einen generalisierten Welpenschutz auszusprechen, ist m. E. auf Dauer nicht sinnvoll.
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Was ist Selbstbehauptung? Und was ist Selbstbehauptung nicht?
Das Wort Selbstbehauptung enthält das Wort „Haupt“. Das eigene Haupt zu zeigen und nicht zurückzuweichen, versinnbildlicht wohl am besten, worum es in der Selbstbehauptung geht.
Protest, Aggression, Trotz können unmittelbare Reaktionen sein, dennoch sind sie nicht mit Selbstbehauptung gleichzusetzen.
Selbstbehauptung ist vielmehr Gelassenheit, Souveränität mit oder ohne Humor. Es ist ein Fühlen und Wahren der eigenen Grenzen. Es ist Aktivität und Verbalisieren, nicht jedoch Passivität und Schweigen.
Wie gelingt Selbstbehauptung?
Es ist für viele Menschen relativ schwer, sich adäquat selbst zu behaupten. Wer gewöhnt ist, wenig zu fordern, sich selbst zurück zu nehmen, anderen den Vortritt zu lassen und darin etwas Gutes sieht – was es in gewisser Weise auch ist – hat i. d. R. große Probleme damit, Nein zu sagen und/oder für sich selbst einzustehen. Auch sind viele überzeugt, dass die Welt ein so schöner Ort wäre, wenn nur alle aufeinander Rücksicht nehmen würden. Das stimmt, nur leider ist die Welt seit Menschengedenken kein harmonisch perfekter Ort. Seit Kain und Abel, seit sich die ersten Ur-Menschen um Felle und Speere stritten, einander etwas wegnahmen oder dominierten – seit Anbeginn bis heute gibt es plumpe, egoistische, unbewusste und gewaltbereite Menschen auf dieser Erde, und manche schaffen es auch in höchste Positionen.
Das heißt, zu erwarten oder zu hoffen, dass (alle) Menschen global oder im persönlichen Umfeld sich ändern und „nach den Regeln spielen“, die dem eigenen Wertekanon entsprechen, ist illusorisch.
Ebenso illusorisch ist, sich selbst spontan über bloßes „Wollen“ zu verändern. Wer höflich ist, zuvorkommend und lieber mit anderen kooperiert als mit anderen konkurriert, wer lieber „warme Harmonie“ als „kalten Ehrgeiz“ möchte, kann sich selbst nicht spontan umpolen – wobei es, wie erwähnt, in der Verhaltensänderung nicht um Aggression oder Trotz geht, noch darum, das destruktive Verhalten anderer Menschen nachzuahmen.
Selbstbehauptung ist also keine Willensentscheidung, sondern Folge von Übung und positiven Erfahrungen. Selbstbehauptung gelingt als Prozess, nicht jedoch per Entscheid.
Begriffsdifferenzierung: Selbstwert, Selbstliebe, Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung
Der Selbstwert bestimmt die Durchschlagskraft und Wirksamkeit der Selbstbehauptung. Davon abzugrenzen ist Selbstliebe. Selbstliebe definiert den Grad der Selbstakzeptanz, des sich selbst Annehmens, so, wie man ist. Selbstwert definiert den Grad des Wertes, den man sich selbst zumisst. Selbstbehauptung wiederum definiert die Intensität und Weise, wie man sich bei An- oder Übergriffen verteidigt. Selbstbewusstsein wiederum beschreibt den Umfang des sich selber Kennens und Erlebens in verschiedenen Phasen und Situationen. Jemand, der sich seiner selbst bewusst ist, kennt sich gut und verfügt über ein stabiles Ich/Selbst.
Es kann ein Mensch z. B. selbstliebend sein, sein Körper- und Erscheinungsbild sowie seinen Charakter mögen, jedoch wenig Wehr- oder Standhaftigkeit bei Grenzverletzungen besitzen.
Entwicklung der Selbstbehauptung
Als Weg-Ziel-Diagramm kann man sich zunächst selbst verorten. Wie stark ist die eigene Selbstbehauptung? Sodann können Ziele definiert und Strategien entwickelt werden, wie man die Ziele zur Verbesserung der Selbstbehauptung erreicht. Dies gelingt am besten über einen festgelegten Zeitraum von Wochen, Monaten, in welchem man täglich notiert, wie es in gewissen Alltagssituationen um die eigene Selbstbehauptung gerade bestellt ist, und wie diese in Zukunft verbessert werden kann. Hier ist im Grunde jeder Experte für sich selbst, obwohl es auch Literatur dazu gibt – die hier im Text verlinkt ist.
Mit bloßen Affirmationen zu arbeiten, halte ich für weniger sinnvoll, als am Leben selbst zu üben und zu lernen. Letztlich lernt niemand Autofahren, weil er ausschließlich affirmiert und visualisiert, dass er Autofahren kann, sondern er lernt es, in dem er eine Schule besucht und es übt und tut.
Konkrete Schritte und praktische Übungen zur Selbstbehauptung
- Analyse: In welchen Situationen fühlst oder fühltest du dich unwohl? Wem und warum hast du erlaubt, dir dieses Gefühl zu geben? Wie möchtest du in Zukunft reagieren, wenn die Situation erneut auftritt?
- Die eigenen Grenzen erkennen und fühlen:
Was würdest du niemals zulassen, das jemand zu dir sagt oder mit dir tut? Hast du es schon einmal zugelassen? Was kannst du in Zukunft tun, damit es nicht mehr passiert? Was sind deine Standards? Was tust du aktiv, damit diese Standards respektiert werden? - Strategien entwickeln, Selbstbehauptung üben: Stell dir vor, jemand drängt sich bei der Kassa vor, obwohl auch du es eilig hast. Z. B. wartet dein Kind oder dein Hund im Auto oder du hast einen wichtigen Termin. Wie reagierst du in Zukunft darauf? (Anm.: Am besten wird hier ein einzelner Satz notiert und gemerkt, damit er in Zukunft abrufbar ist. Ein Beispiel: „Sie haben sich vorgedrängt, bitte stellen Sie sich zurück in die Reihe.“ – Dabei lächeln.)
Als erster Schritt kann gelten, das Schweigen zu brechen. Egal, was erwidert wird, es ist besser, als zu schweigen und sich danach zu ärgern. Erfolg bedeutet nicht, dass die angesprochene Person sich sofort in die Reihe stellt oder sich gar entschuldigt, sondern dass man eine verbale, ruhige Handlung gesetzt hat. Erfolg ist nicht zwingend ein positives Verhalten der anderen Person, sondern Erfolg ist, dass man sich geäußert, seine Meinung (zur Situation) dargelegt, die eigenen Muskeln trainiert hat – und so langsam immer stärker wird. - Stell dir andere Situationen vor, die unangenehm sind, mit welchen Worten/Sätzen reagierst du in Zukunft darauf? (Anm.: Es geht wiederum darum, gelassene Sätze und Strategien zu entwickeln, die in Zukunft angewandt und geübt werden können. Erstes Ziel ist, das Schweigen zu brechen. Ein weiteres Ziel kann – je nach Situation – Schlagfertigkeit oder aktives Formulieren der eigenen Bedürfnisse/Wünsche sein.)
- In welche leichten oder milden Formen/Situationen eines unangenehmen Gefühls kannst du dich heute begeben, um die neuen Strategien zu trainieren? (Wo und was sind deine Übungsfelder?)
Das Leben als Trainingsumfeld – ständige Verbesserung
Es gibt viele Möglichkeiten, Selbstbehauptung zu lernen. Selbstbewusstseins-Training, Schlagfertigkeitstraining, Rhetorik und Selbstwirksamkeitstraining sind z. B. empfehlenswerte Werkzeuge. Wer das Leben nicht nur als Lern- sondern als Trainigsumfeld begreift, kann auch Freude an der eigenen Selbstentwicklung erleben. Wichtig ist, Selbstbehauptung als Prozess zu begreifen, der immer wieder neu erfahren und geübt wird. Jede Situation bietet eine Möglichkeit, die eigenen Strategien zu überdenken oder zu verbessern. Auch verpatzte Situationen oder Rückschritte sollten nicht verdrängt, sondern genau analysiert werden. Warum hat man es z. B. dieses Mal nicht geschafft, die eigene Meinung zu äußeren, sich selbst zu vertreten oder die Grenzen zu wahren? Was waren die Umstände? Nach erfolgter Analyse können neue Strategien entwickelt und in Zukunft erprobt werden.
Buch: Barbara Berckhan: Sanfte Selbstbehauptung – Buchlink
Was bringt erfolgreiche Selbstbehauptung?
Erfolgreiche Selbstbehauptung bringt innere Stärke, Respekt, Souveränität, Selbstvertrauen (man traut sich selbst etwas zu), Bewunderung von anderen Menschen, die gerne in einer gewissen Situation ebenso reagiert hätten, Charisma und Kraft. Auch vermindern sich Ängste, soziale Phobien und Nervosität. Ein Mensch, der sich auf gelassene Weise selbst behaupten kann, ruht entspannt in sich selbst. Etwaige Feinde, Aggressoren oder Übergriffe wehrt er (vielleicht aus jahrelanger Übung/Gewohnheit) schon wie nebenbei ab. Er sieht und fühlt die Zeichen eines Über- oder Angriffes sofort und weiß (aufgrund seines Trainings) unmittelbar damit umzugehen. Was früher für nächtelanges Wachliegen und Grübeleien über andere Menschen und die ungerechte Welt führte, ist jetzt weder besonders wichtig, noch kostet es noch Lebensfreude oder Energie. Die Anzahl der Menschen, die ausbremsen oder übervorteilen wollen, sinkt. Der Blick von Eltern, Kindern, Freunden, Kollegen oder Partnern ist aufmerksamer, die Achtung steigt.
Es lohnt sich also, aus dem inneren Schneckenhaus zu kommen und „Haupt“ zu zeigen, damit auch schließlich der letzte Mensch im Lebensumfeld erfährt, dass da wirklich jemand (Zuhause) ist, der Achtung und Respekt verdient.
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